Was ein Jahr mit "Syrischem Nachwuchs" mit unserer Familie gemacht hat

Am 16. Oktober 2015 zog ein syrischer Umf (unbegleiteter minderjähriger Flüchtling) bei uns ein. Anfang Januar, sollte ein zweiter syrischer junger Mann folgen. Gleich zu Anfang ... das war nicht immer ein Zuckerschlecken, aber wir würden unsere Tür wieder öffnen, wenn wir noch mal entscheiden dürften/müssten. Es hat sich im Nachhinein als nicht falsch erwiesen, einfach mal mit etwas Naivität ins kalte Wasser zu springen.

Syrische Umfs am Strand
Das erste Mal mit beiden syrischen Jungs am Strand.

Aber wie hat diese Erfahrung unsere Familie verändert? Was haben wir gelernt und was war vielleicht auch doof. Ich werde einfach mal ein paar Gedanken dazu niederschreiben:

  • Meine Eltern haben mir immer vermittelt das "Reisen bildet". Seine Tür einer fremden Kultur zu öffnen, tut das auch. Denn wir haben in den letzten Monaten Infos über Land und Leute aus erster Hand bekommen.
  • Aller Anfang ist schwer. An Wochenenden, an denen wir anfangs wegen fehlender Kontakte zu gleichaltrigen noch Entertainer sein mussten, bekommen wir die Jungs gerade fast nicht mehr zu sehen (oder haben gleich noch jede Menge Besuch im Haus).
  • Die Phasen des Ankommens in Pflegefamilien zählen einfach für alle egal woher sie kommen (ganz, ganz vereinfacht: erst passen sie sich an, dann übertragen sie alte Gewohnheiten und irgendwann hat es sich zusammen gerappelt)
  • Die Erkenntnis, dass die arabischen Feiertage sich von Land zu Land/Religion zu Religion unterscheiden. Im Grunde macht da auch fast jede Familie, was sie will, ähnlich wie hier. (Zumindest vor Kriegsbeginn). Wir feiern mittlerweile einfach fast alles :P
  • Ich habe die ersten Berührungen mit Schule aus Sicht von Eltern machen müssen. Elternabende, Elternsprechstunden und außerschulische Aktvitäten, die durch Eltern unterstützt werden, sind echt zeitraubend und manchmal auch nervenaufreibend.
  • EMPATHIE. Ja wir wurden in Empathie unterrichtet. Manchmal mussten wir uns auch selbst lehren. Wieso zum Beispiel ist denen abends manchmal einfach völlig egal, was ich sage? (ja vielleicht, weil zu Hause in Syrien gerade "wichtigere Dinge" passieren), Wieso zum Teufel steht der nicht auf morgen (Jaaaaa, ... wie war das bei mir mit 17?) oder Wieso sind Ausweise und Dokumente den Jungs so wichtig? (Jedes ist für sie ein Schritt in ein Leben in diesem Land)
  • Die Erkenntnis: Auch syrische Teenager in einem fremden Land sind manchmal eben einfach nur nervige Teenager.
  • Kein Scherz, aber ich lerne ganz nebenbei günstig und mit saisonalen Obst und Gemüsesorten kochen. Irgendwie verlernt man das, wenn man im Supermarkt alles jederzeit kaufen kann.
  • Aber ich habe auch das ein oder andere Mal meine eigenen Grenzen kennengelernt. Grmpf
  • Ich habe, während unser Schützling auf Zeit wieder ausgezogen ist und ja von irgendetwas leben musste, den ersten Hartz IV Antrag in meinem Leben gesehen und ich war auf vielen Behörden, mit denen ich sonst wohl nie im Leben in Berührung gekommen wäre. (Meistens war man dort übrigens sehr nett, helfen konnte man uns allerdings nicht immer.)
  • Wir haben den Familien in Syrien mitgetrauert, mitgefiebert und nach Lösungen gesucht, die wir nicht zu finden im Stande sind. :(
  • Wir haben unsere Familie erweitert. Ich hoffe sehr, dass die geschwisterliche Beziehung zur Mini erhalten bleibt.

Im Laufe des nächsten Jahres, wird wohl auch unser zweiter Schützling flügge werden und nachdem er von uns gelernt hat, ... was Versicherungen sind, ... dass Schweinefleisch in vielen Sachen drin ist, wo man sie nicht vermutet, ... dass man mit 500 Euro in diesem Land ganz sicher nicht reich ist, ... wie man in dieser Familie Feiertage feiert, ... dass die Bürokratie hier endlos ist, ... dass man sich hier fast ein Jahr vorher für eine Ausbildung bewerben muss, ... dass hier alles - wirklich alles - Steuern kostet, ... dass das Leben mit Job und Kleinkind kein Zuckerschlecken ist (das wiederholen die übrigens ständig) und dass in diesem Haus jemand ist, der auch zukünftig mit Rat und Tat zur Seite steht ... wird er langsam versuchen auf eigenen Beinen zu stehen.

Ich bin jetzt schon ein bisschen traurig, weil es sehr viel ruhiger in diesem Haus werden wird, ABER: ich freue mich auch ein bisschen darauf mein Büro wieder zu haben.

 

Ich hoffe der Start in unserer Familie hat beiden Jungs irgendwie für irgendwas geholfen ... demnächst kommt übrigens ein Film zum Thema in die Kinos: Ich habe schon beim Trailer lachen müssen und werde den Film "Willkommen bei den Hartmanns" wenn nicht im Kino, dann später auf DVD anschauen :P

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Kommentare: 1
  • #1

    Lydia Zoubek (Freitag, 04 November 2016 06:06)

    Ich finde diesen Beitrag sehr anschaulich geschrieben. Weiter so.